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Das Reich der Obodriten

Die Obodriten oder Abodriten waren ein Stammesverband, der vom 8. bis zum 12. Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburgs und des östlichen Holsteins siedelte. Der Name leitet sich vom Stamm der Obodriten ab, der um Wismar und Schwerin ansässig war und innerhalb des Verbandes eine Führungsrolle einnahm. Dem Stammesverband gehörten zu unterschiedlichen Zeiten die Wagrier, Travnjanen, Polaben, Kessiner, Warnower, Zirzipanen, Smeldinger, Bethenzer und Linonen an. Trotz seiner exponierten geopolitischen Lage behauptete der Stammesverband der Obodriten seine politische, kulturelle und religiöse Eigenständigkeit gegenüber Franken, Sachsen und Dänen bis zu seinem Zerfall Anfang des 12. Jahrhunderts.

Die Wagrier waren der nordwestlichste Teil des Stammesverbandes der Obodriten. Ihr Siedlungsraum umfasste im 12. Jahrhundert die Gebiete Ostholsteins und Plön und grenzte im Westen an den Limes Saxoniae bzw. die Schwentine und im Süden an die Trave. Hauptburg der Wagrier war der Seehandelsplatz Starigard/Oldenburg. Dort befand sich der Sitz des Teilstammesfürsten und ihr Kultort, ein der Gottheit Prove geweihter Eichenhain. Die Travnjanen, die an der Trave im Lübecker Becken angesiedelt waren und deren Hauptburg der Ringwall von Pöppendorf war, gingen später in den Teilstamm der Wagrier über.

Die Polaben waren der Stammesverband der südöstlich der Wagrier siedelte. Dieses Gebiet verlief zwischen der Trave und Elbe sowie entlang der Jeetzel. Heute entspricht das Gebiet ungefähr den Landkreisen Herzogtum Lauenburg, Lüchow-Dannenberg, Nordwestmecklenburg und Ludwigslust sowie Teilen des Altmarkkreises Salzwedel und des Landkreises Prignitz. Die Hauptburg der Polaben lag zunächst in Hammer, später in Ratzeburg.

Die Warnower waren ein sehr kleiner Stamm, der keine führende Rolle spielte. Sie siedelten im Bereich des Flusses Warnow. Ein kultureller Mittelpunkt entstand auf der Burg Groß Raden wenige Kilometer nördlich der Kleinstadt Sternberg.

Kessiner, Zirzipanen, Smeldinger, Bethenzer und Linonen gehörten nicht immer zum obodritischen Stammesverband. Sie gehörten zeitweise zum Lutizenbund, der den Obodriten oft feindlich gegenüberstand. Die vier Kernstämme der Lutizen bildeten die vormals obodritischen Teilstämme der Kessiner und Zirzipanen sowie die Tollenser und Redarier. Zentrum des Lutizenbundes war dessen wohl nahe dem Tollensesee im Siedlungsgebiet der Redarier gelegene Kultheiligtum Rethra. Etwa von 983 bis 1068 wurde hier der Widerstand gegen die Christianisierung und Unterwerfung der Elb- und Ostseeslawen koordiniert. Die Lage der Burg ist aber unbekannt.

Das Siedlungsgebiet der elbslawischen Stämme um die Mitte des 11. Jahrhunderts (Kernstämme des Lutizenbundes sind rot unterstrichen)

Ende des 7. Jahrhunderts wanderten slawische Gruppen nach Mecklenburg und Ostholstein ein, nachdem die vorher dort siedelnden germanischen Stämme im Zuge der Völkerwanderung das Gebiet verlassen hatten. Es ist von einem eher zurückhaltenden Beginn der slawischen Landnahme auszugehen. Bei den einwandernden Gruppen handelte es sich nicht um geschlossene Verbände oder sogar den „Obodritischen Stamm“. Dieser Stamm bildete sich erst nach der Einwanderung, wobei noch bestehende germanische Bevölkerungsreste assimiliert wurden. Dem archäologischen Fundbild nach siedelten die slawischen Einwanderer nicht flächendeckend, sondern in abgegrenzten, zumeist von dichtem Wald umgebenen Gebieten, die als Siedlungskammern bezeichnet werden. Aus den innerhalb dieser Kammern lebenden Siedlungsverbänden formten sich dann Kleinstämme. Eine zentrale Herrschaft gab es noch nicht.

Siedlungsgebiet des Stammesverbandes der Obodriten

Ende des 8. Jahrhunderts siedelten die Obodriten in zwei räumlich voneinander getrennten Gebieten: Das westliche Siedlungsgebiet, bestehend aus dem nördlichen Lauenburg mit Hauptburg in Hammer, dem Lübecker Becken mit Hauptburg in Pöppendorf und Ostholstein mit Hauptburg in Starigard grenzte im Norden an das Herrschaftsgebiet der Dänen, im Westen an das sächsische Nordelbien und im Süden an das ebenfalls sächsische Ostfalen. Benachbart zum östlichen Siedlungsgebiet zwischen Wismar und Schwerin mit den Hauptburgen in Dorf Mecklenburg und Ilow befand sich das Stammesgebiet der Wilzen (später auch Lutizen). Zwischen den beiden obodritischen Siedlungsgebieten erstreckte sich ein dünn besiedelter Streifen von der Ostsee über Grevesmühlen, Gadebusch und Wittenburg bis zur Elbe westlich von Boizenburg. Das Grenzgebiet zwischen Obodriten und Wilzen verlief vom Darß entlang der Recknitz über die Mecklenburgische Schweiz bis in das Müritzgebiet.

In den folgenden Jahrhunderten gab es keine nennenswerte Veränderung des Siedlungsgebietes. Zunehmender Flächenbedarf wurde durch eine Verdichtung des Siedlungsnetzes erreicht. Es erfolgte nur in Ausnahmefällen eine Landerschließung durch Rodung.

Unter Karl dem Großen kam es zu einem Bündnis der Obodriten mit den Franken gegen die Sachsen. Durch dieses Bündnis konnte der damalige obodritische Samtherrscher Drasco sein Herrschaftsgebiet auf das sächsische Nordelbien und auf das Gebiet der Smeldinger, Bethenzer und Linonen ausdehnen. Das Bündnis trug Züge eines Lehensverhältnisses allerdings ohne, dass die Franken das Gebiet der Obodriten in das Reich einbezogen oder dieses missioniert hätten. Unter Drascos Nachfolgern zerbrach dieses Bündnis aber schon 838 wieder.

Herrschaftsgebiet des obodritischen Samtherrschers Drasco nach Überlassung Nordelbiens durch Karl den Großen 804-810

Die Nakoniden

Mit dem Samtherrscher Nakon aus dem christlichen obodritischen Fürstengeschlecht der Nakoniden übernahmen diese die Macht im Stammesverband der Obodriten. Erstmals erwähnt wird er zum Jahr 954 in der um 967 entstandenen Sachsengeschichte Widukind von Corveys. Nakon muss zwischen 965 und 967 gestorben sein, denn 967 benennt Widukind bereits Mistiwoj als Obodritenfürsten.

Bedeutsam für die weitere Entwicklung des Obodritenstaates war die Taufe der obodritischen Samtherrscher. Nach außen schützte die Annahme des Christentums vor Zugriffen der Sachsen (Deutschen) und nach innen diente sie als zusätzliche Herrschaftslegitimation gegenüber den Teilstammesfürsten. Für die Dynastie der Nakoniden ist eine durchgängige Zugehörigkeit zum Christentum und der planmäßige Aufbau einer Kirchenorganisation belegt. Dabei scheuten die Nakoniden nicht davor zurück, den Aufbau der Kirche mit Gewalt gegen die Teilstammesfürsten durchzusetzen. Nach dem Tod Nakons bekämpfte dessen Sohn Mistiwoj 967 den wagrischen Teilstammesfürsten Selibur, zerstörte an der Seite Hermann Billungs den Tempel der Wagrier bei der Burg Starigard und ermöglichte damit die Errichtung des Bistums Oldenburg.

In der Zuwendung der obodritischen Herrscherdynastie zum Christentum und dem Freundschaftsbündnis mit den Sachsen könnte auch der Grund für eine unterbliebene Beteiligung der Obodriten am Slawenaufstand der Lutizen von 983 zu erkennen sein. Dennoch kam es auch bei den Obodriten zu einer von den Teilstammesfürsten getragenen heidnischen Reaktion gegen die sächsische Politik in den Grenzgebieten. Dabei wurde das Bistum Oldenburg Anfang der 990er Jahre in einem Aufruhr der Wagrier zerstört. Als sich Otto III. 995 auf einem Feldzug gegen die zum Lutizenbund übergelaufenen Zirzipanen als Gast des Samtherrschers Mistislaw in der Mecklenburg aufhielt, diente der Besuch insbesondere auch einer Aufwertung des christlichen Fürstenhauses. 1018 erfasste schließlich ein erneuter Aufstand der heidnischen Kräfte das gesamte Gebiet des Stammesverbandes und das angrenzende Nordelbien. Im Verlauf dieser Erhebung wurde auch die Hammaburg (Hamburg) zerstört. Mistislaw musste ins sächsische Exil fliehen und starb dort. Der Stammesverband zerfiel in die Teilstämme. In Wagrien und Polabien herrschten heidnische Fürsten. Mistislaws christlichem Sohn Pribignew (Udo) blieb nur die Herrschaft über den Stamm der Obodriten. Keiner von ihnen erlangte die Samtherrscherwürde. Kessiner und Zirzipanen hatten sich dem Lutizenbund angeschlossen. Erst mit dem heidnischen Polaben Ratibor erhielt der Stammesverband wieder einen Samtherrscher. Damit wurden alle bisherigen Bemühungen der Christianisierung zerstört. 1028 wurde Pribignew „wegen seiner Grausamkeit“ von einem sächsischen Überläufer erschlagen.

Der Sohn Pribignews Gottschalk der Wende wurde im Hauskloster der billungschen Herzöge St. Michael in Lüneburg christlich erzogen. Nach der Ermordung seines Vaters führte er in Nordelbien 1032 einen Vergeltungsfeldzug, worauf ihn der sächsische Billungerherzog Bernhard II. gefangen nahm und verbannte. Im Exil in Dänemark kämpfte er unter König Knut dem Großen in England und der Normandie. Nach Knuts Tod trat er 1035 in die Dienste des späteren Dänenkönigs Sven Estridsson, dessen Tochter Sigrid er heiratete. Mit dem Sieg der Dänen unter König Magnus über Ratibor kehrte Gottschalk 1043 in sein Land zurück. Er bezwang die Teilstammesfürsten der Wagrier, Polaben und Obodriten und regierte nun wieder als Samtherrscher von der Mecklenburg aus. Im Osten erweiterte er sein Herrschaftsgebiet 1056 um die Länder der Kessiner und Zirzipanen, im Süden unterwarf er die Linonen. Im Inneren errichtete er eine moderne Verwaltung nach dänischem Vorbild. Um seine Macht auch durch die Kirche zu festigen, pflegte er enge Beziehungen zum Bremer Erzbischof Adalbert. Dieser war mit dem sächsischen Herzog Bernhard II. verfeindet. Adalbert unterstützte die Errichtung der Bistümer in Oldenburg, Ratzeburg und Mecklenburg sowie die Gründung mehrerer Kirchen und Klöster. Gottschalks Steuer- und Christianisierungspolitik stießen bei der Bevölkerung und dem Adel auf zunehmenden Widerstand. Dem Sturz Erzbischof Adalberts 1066 folgte ein vom slawischen Heiligtum Rethra ausgehender Aufstand, der unter der Führung von Gottschalks Schwager Blusso schnell das gesamte Herrschaftsgebiet erfasste. Gottschalk wurde am 7. Juni 1066 in Lenzen (Elbe) erschlagen, der Priester Ansverus mit seinen Mönchen am 15. Juli 1066 bei Ratzeburg gesteinigt, der mecklenburger Bischof Johannes mit vielen seiner Priester zu Tode gefoltert. Gottschalks Witwe Sigrid, nackt aus der Mecklenburg vertrieben, floh mit dem späteren Regenten Heinrich zu ihrem Vater nach Dänemark. Budivoj, ein Sohn Gottschalks aus erster Ehe, konnte die Verhältnisse im Land kurzfristig wieder stabilisieren, ehe er vor dem heidnischen Wagrierfürsten Kruto zu den Billungern fliehen musste. Der Versuch Budivojs die Herrschaft mit Hilfe eines Heeres, das ihm der Billungerherzog Magnus unterstellt hatte, wieder zu erlangen, endete am 8. August 1071 mit dem Tod Budivojs bei Plön. Kruto, nunmehr unangefochtener Samtherrscher des Stammesverbandes, konnte 1090 eine Invasion Heinrichs mit dänischer Unterstützung an der wagrischen Küste abwehren. Nach dieser Niederlage änderte Heinrich seine Taktik und überfiel nach Wikingerart mehrfach die wagrischen Küsten, so dass Kruto schließlich vorgab, Heinrich einen Teil des Obodritenlandes als Herrschaftsgebiet überlassen zu wollen. Dahinter steckte der Plan, Heinrich auf einem Gastmahl zu ermorden. Dieser, von Krutos Gattin Slawina gewarnt, ließ nunmehr seinerseits den betrunkenen Kruto im Anschluss an das Trinkgelage von einem dänischen Gefolgsmann erschlagen.

Zur Festigung seines Herrschaftsanspruchs auf Wagrien heiratete Heinrich Krutos Witwe und unterwarf mit Hilfe des Billunger Herzogs Magnus in der Schlacht bei Schmilau das vereinigte Heer der Polaben und Obodriten. Anschließend eroberte er 14 der 18 Burgen des Obodritenlandes und weitete seinen unmittelbaren Herrschaftsbereich auch auf Kessiner und Zirzipanen aus, während ihm Lutizen und alle Stämme Pommerns bis zur Oder tributpflichtig wurden. Mit den nordelbischen Sachsen schloss er einen Friedensvertrag. Heinrich, der in zeitgenössischen Quellen als König der Slawen bezeichnet wurde, leistete seinem Verwandten, dem Billungerherzog Magnus, den Treueeid. In Abkehr von der nakonidischen Tradition wählte Heinrich als Residenz anstelle der Mecklenburg Alt-Lübeck, das strategisch günstig an der Grenze der Teilstämme der Wagrier, Polaben und der Obodriten gelegen war. In der dortigen Kirche gestattete er dem Priester Vizelin eingedenkt der Ereignisse von 1066 eine vorsichtige Wiederaufnahme des Missionswerkes in Wagrien.

Nach dem Tod Heinrichs 1127 (ob er gestorben ist oder ermordet wurde, ist nicht genau bekannt) kämpften zunächst dessen Söhne Knut und Sventipolk untereinander um die Samtherrschaft, wurden aber bald ermordet. Die Samtherrschaft fiel 1129 an den vom deutschen Kaiser Lothar von Supplinburg eingesetzten Knud Lavard, einen Angehörigen des dänischen Königshauses, der die Belehnung für einen hohen Preis von Lothar erkauft hatte. Als Knud 1131 im dänischen Thronstreit ein gewaltsamer Tod ereilte, endete das obodritische Samtherrschertum. Das Obodritenreich zerfiel in die Teilstammesfürstentümer Wagrien und Polabien im Westen unter Heinrichs Neffen Pribislaw und die Länder der Obodriten, Kessiner und Zirzipanen unter Niklot im Osten. Weder Pribislaw noch Niklot gelang es in den folgenden Jahren die Landesteilung zu überwinden. 1138/39 nach der Entmachtung Pribislaws gliederte Heinrich der Löwe den westlichen Teil mit Wagrien und Polabien in sein Herrschaftsgebiet ein. Im östlichen Landesteil etablierten sich die Nachkommen des obodritischen Fürsten Niklot dauerhaft als Herren von Mecklenburg (siehe auch Seite „Die Herren von Mecklenburg„).

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Karl der Große
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